15.11.20 Erdrutsch vor der Argagaschlucht

Bild der Felsmassen auf dem Weg zur Finca Argayall. (Facebook)

Gelegentlich wird man, selbst im Rahmen scheinbar alles dominierender gesellschaftlicher Umschichtungen, wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Die Natur klopft sozusagen an unsere Tür, als ob sie unsere momentane Nabelschau kurz mal unterbrechen wolle.

Die Meisten von uns fallen dann aus allen Wolken. Da war doch noch was….

So wird es vielleicht dem Herrn gegangen sein, der, von der Finca Argayall aus, den Erdrutsch in all seinen Details auf Video festhalten konnte. Offensichtlich hat sein Verstand aber schnell geschaltet, er suchte sichere Distanz zum Wasser.

Die Schuttmassen, hier vom Hubschrauber aus aufgenommen, ganz rechts einer der Bullis, die dort dauerhaft geparkt sind und als Wohnsitz dienen (Foto: DGSE-Gobcan)

Was im Nachhinein, wenn man die Welle gesehen hat, die durch den Erdrutsch hervorgerufen wurde, vielleicht etwas überreagiert wirkt, ist ein Verhalten, welches sich in einem Umfeld wie La Gomera als 100 % richtig erweisen kann. Wenn man mal auf den vulkanisch sehr aktiven Liparischen Inseln war, ist man vielleicht mit den gigantischen Erdrutschen vertraut, welche die aktuelle Realität auf der Inselgruppe nördlich von Sizilien deutlich mehr dominieren als auf den Kanaren. So findet man auf der Insel Stromboli zum Beispiel überall schnurgerade auf den Berg hinaufführende Tsunamifluchtwege, die es dem rechtzeitig gewarnten Beobachter ermöglichen, nach einem Erdrutsch „Land zu gewinnen“, denn dann gilt es, mit einem Tsunami zu rechnen.

Canadas del Teide, Überreste eines alten Massivs

Auch wer sich mal mit der Geologie der Kanaren beschäftigt hat, weiss vielleicht, dass schnell aus dem Meeresboden hochwachsende Inseln dazu neigen, seitlich in grössere Tiefen wieder abzurutschen, wenn sie „kopflastig“ geworden sind. Bei solchen grossen „Gravitätsabstürzen“ kommen aber gelegentlich nicht nur Bergflanken herunter, wie der Südseite des Teguerguenchemassivs, sondern ganze Inselflanken. In einer sehr kontrovers diskutierten Arbeit eines kanadischen Forschungsteams wurde auf der Basis von vielen auf den Kanaren in entfernter Vergangenheit bereits stattgefundener Landslides die Theorie vom möglichen Flankenabruch der Cumbre Vieja im Südwesten La Palmas untersucht und modelliert.

Erdrutsche im Zentrum von Teneriffa. Aus: Grandes deslizamientos gravitacionales en Tenerife. Coello Bravo y Ferrer Gijón, Consejo Insular de Aguas de Tenerife

Die auch schon von Frank Schätzing in seinem Buch „Der Schwarm“ aufgegriffene Arbeit beschreibt eine 600 m hohe Welle, die auch hier in La Gomera nach 10 Minuten mit etwa 100 m Höhe für eine generelle Umschichtung unseres Lebens sorgen würde, wenn eine instabil gewordene Flanke unserer westlichen Nachbarinsel ins Rutschen kommen sollte. Die kontrovers diskutierte Position in der Studie ist dabei nicht, ob das passieren kann, sondern wann und wie gross die resultierende Welle wird. Natürlich fragt man sich dabei auch, ob es Sinn macht, die Bevölkerung zu alarmieren, die ja momentan und auch sonst mit ganz anderen Dingen beschäftigt ist.

Die Dimension eines der grossen Erdrutsche macht beispielsweise ein Blick vom Teide in die Cañadas deutlich. Der im Bild sichbare Bereich bis zu der Steilwand ist mit einer durchschnittlichen Dicke von etwa 1500 m nach Norden ins Meer abgestürzt und hat dabei auch unter Wasser grosse Mengen Material mitgerissen, insgesamt werden laut der Studie „Grandes deslizamientos gravitacionales en Tenerife“ über das jetzige Tal von Icod de los Vinos etwa 500 km3 abgegangen sein. Richtig, 500 Kubikkilometer. Wellenablagerungen sind beispielsweise aus dem Tenogebirge Teneriffas bis in 180 m über dem Meeresspiegel bekannt.

Wassertiefen vor La Gomera (IDE Canarias)

Allerdings wäre es für die Bildung eines Tsunamis notwendig, dass auch unter Wasser grosse Verdrängungen stattfinden. Auf La Gomera hat sich, nach einer langen Zeit ohne vulkanische, aufbauende Aktivität, durch „normale Erosion“, wie man sie auch jetzt von der Argagaschlucht aus beobachten konnte, eine weit ausgedehnte flache Küstenzone ausgebildet, wie man auf der Tiefenkarte erkennen kann. Um die wirlich tiefen Gewässer von mehr als 200 m zu erreichen, muss man bei uns vor der Tür schon bald 2,5 Meilen hinausfahren. Nur dort draussen sind die möglicherweise verdrängten Wassermassen dann aber auch so gross, dass sie eine gigantische Welle aufbauen könnten. Das heisst, wenn sich nicht wirklich die halbe Insel bis weit vor unsere Küste neigt, wird es kein wirklicher Tsunami werden, auch wenn noch etwas mehr Berg herunterkommt.

Erdrutsch (Foto Bomberos voluntarios Valle Gran Rey)

Wir können trotzdem von riesigem Glück sprechen, dass da nicht mehr passiert ist, als einige Menschen ordentlich zu erschrecken und von der Aussenwelt abzuschliessen. Sollte der Zufahrtsweg irgendwann mal wieder geöffnet werden, sollten wir ihn mit noch mehr Vorsicht nutzen und Wind und Regentage auch mal respektieren.

Verzeiht mir bitte meine etwas flapsige Ausdrucksweise, ich danke wirklich allen Heiligen, dass scheinbar niemandem etwas passiert ist. Auch denke ich an die dort lebenden und arbeitenden Freunde und Bekannten noch immer mit einer Gänsehaut. Vielen Dank auch an die Suchmannschaften aller möglichen Organisationen, unter anderem die freiwillige Feuerwehr von Valle Gran Rey, und wer auch immer sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, um sich zu kümmern….