Wenn uns freilaufende Ziegen in einer abgelegenen Schlucht begegnen, nehmen wir sie wahr als Bestandteile der „Natur“, die offensichtlich für ein Leben am Berg gemacht worden sind. Sie stehen schwindelfrei an den luftigsten Stellen, galoppieren mit himmlischer Leichtigkeit durch die steilste Felsenklippe. Sie leben mit der ihnen als Nahrung dienenden Vegetation im Gleichgewicht. Auf unseren Inseln hat es kein grosses Landraubtier geschafft, niemand stört also für Sie das Bild von einem kleinen Paradies. Prächtig!
In diesem Bild spielt weder die ursprüngliche Vegetation – vor der Einwanderung des Menschen und der Einführung der Ziegen, Schafe und Kaninchen – eine Rolle, noch sind wir in der Lage, die Entwicklung des augenscheinlichen „Gleichgewichtes“ auf den Kanaren in allen ihren Facetten zu erkennen. Wir neigen dazu, wichtige Folgen der Anwesenheit der Ziegen zu vergessen. Um die Situation strukturiert und vereinfacht beleuchten zu können, müsste man folgende Faktoren betrachten:
Relevante Faktoren in der Entwicklung des ökologischen Gleichgewichtes
1) Es gibt innerhalb der kanarischen Vegetation nur in sehr beschränktem Masse Anpassung der Pflanzen an den Befrass
Die Inseln haben sich ohne Landverbindung entwickelt, kein grosses Tier, weder Pflanzenfresser noch Raubtier, hat seinen Weg auf die Inseln gefunden. Die grössten Pflanzenfresser waren auf allen Inseln die Eidechsen! In den Millionen Jahren der Ausprägung „unseres“ ökologischen Gleichgewichtes, haben sich die Pflanzen an den fehlenden Frassdruck angepasst: Die meisten Arten, die jetzt hier vorkommen, haben sich in ihrer Evolution entsprechend entwickelt. Sie konnten sich die Energie sparen, Anpassungen gegen Pflanzenfresser zu bilden. Sie brauchten keine Dornen, keine frass-resistente Rinde, keine unverträglichen Inhaltsstoffe oder sonstigen Verteidigungselemente. Eine Evolution von 10 oder 20 Millionen Jahren lässt dafür Zeit.
Damit sind sie den im zeitlichen Verhältnis gerade erst dazugekommenen Pflanzenfressern im wahrsten Sinne des Wortes jetzt schutzlos ausgeliefert. Diese Evolution lässt sich nicht in den paar Jahren rückgängig machen, die die Ziegen bräuchten, um die weniger gut angepassten Pflanzen aufzufressen, wenn man sie hier gewähren liesse. Würden wir die Ziegen „wirtschaften“ lassen, blieben am Ende nur noch die frass-resistenten Arten über. Alle anderen wären auf ein Leben in den sogar für sie unzugänglichen Steilhängen verdammt, die nun mal nicht allen Pflanzen zusagen und grösseren Exemplaren keinen Halt gewähren. Der Verlust an biologischer Vielfalt wäre enorm.
2) Grosse Pflanzenfresser wie Ziegen und Schafe zerstören die Bodendecke.
Dazu kommt, dass sich in den Jahrmillionen auch erst der Boden entwickelt hat, auf dem die Pflanzen nun gedeihen.
Ich verstehe Boden als die mit Wasser, Mineralien und einer grossen Zahl von zersetzenden Bodenorganismen angereicherte Schicht durchmischten Materiales aus Pflanzenresten und mehr oder weniger feinen Gesteinsbruchstücken, im Gegensatz zum nackten Fels. Die meisten Pflanzen können ohne Boden nicht leben.
Jedes der vielen verschiedenen Biotope in all den unterschiedlichen klimatischen und geologischen Nischen, mit unterschiedlicher Exposition zu Sonne, Regen, horizontalem Regen und Wind, wurde Stück für Stück mit Pflanzen besiedelt, aus deren Resten sich dann der Boden mit Nährstoffen für weiteres Pflanzenwachstum anreichern konnte. Beim Beispiel der Entwicklung eines exponierten Systems wie der Vegetation auf Felsterrassen unterhalb der Passatwolkenhöhe, ist der Wert des Bodens leicht anschaulich zu machen:
In unregelmässigen Abständen arbeitet die Erosion dort weiter, das Gelände ist instabil. Wasserzufuhr gibt es eher sporadisch, oft aus Nebel. Bestände höher aufwachsender Pflanzen können sich nicht entwickeln. Meist gibt es einige buschförmige oder mittelgrosse Gewächse und einen Bodendecker. Die Büsche halten mit ihren Wurzeln die spärlichen Bodenbestandteile zusammen, der Bodendecker sorgt für einen direkten Erosionsschutz bei Regen und schützt vor der Austrocknung und Winderosion. Bei der meist grossen Hangneigung kann die Präsenz von Ziegen und Schafen desaströse Folgen haben, wenn die Vegetationsdichte heruntergesetzt und Oberfläche durch die Huftiere aufgerissen oder sogar heruntergetreten wird.
3) Verdunstungsschutz wird entfernt oder umgeschichtet.
Vielleicht muss man gar nicht soweit gehen: Der Lorbeerwald in unserer von Passatwinden durchfeuchteten Bergregion hilft uns weiter. Hier wird, unter anderem, der Boden von den phantastischen Guides des Parque Nacional del Garajonay als Schwamm versinnbildlicht. Er nimmt in den Phasen mit guter Durchfeuchtung Wasser auf und gibt es in trockeneren Phasen sehr langsam wieder ab.
Die Böden in den weniger geneigten Bereichen sind bis zu mehreren Metern dick, hier kann sehr viel Wasser gespeichert werden. In ihrer obersten Schicht bilden Moose und andere Bodendecker, Holzteile und sich langsam zersetzende Blätter einen wirksamen Schutz vor der Erosion. Wird diese Deckschicht von durch die Vegetation streifenden Pflanzenfressern umgeschichtet, verringert sich auch der Verdunstungsschutz. Die Vegetationszonen mit Präsenz von Arten, die auf dauerhaft gut durchfeuchteten Boden angewiesen sind, würden sich verkleinern und eventuell verschwinden. Das ist auch einer der Gründe, weshalb man versucht, den Einfluss durch den Menschen auf die Wanderwege zu beschränken.
4) Zusätzlicher Stress in klimatischen Sonderphasen
In Extremphasen wie grosser Trockenheit werden Pflanzen bei geringer Verfügbarkeit von alternativen Nahrungsquellen bis auf die Wurzeln kahlgefressen. Und das in einer Phase, wo die Pflanzen sowieso mit extremem klimatischem Stress zu kämpfen haben. Selbst Arten mit kräftiger Wurzelentwicklung mögen da nicht mehr durchhalten.
5) Vernichtung von Endemiten
In vielen Regionen der Inseln haben sich auf sehr kleinen Räumen einzigartige Pflanzen entwickelt. Diese sogenannten Endemiten sind ein sehr wertvolles Element der Vegetation der Kanaren, sowohl aus rein botanischer, pharmazeutischer, und eventuell auch aus wassertechnischer Sicht (die wirksamsten Wolkenmelker und Erosions- sowie Verdunstungsschützer halten sich dort, wo sie eben können).
6) Zusätzlicher Stress durch menschliche Nutzung
Die Entwicklung der Vegetation ist nicht auf dem Stand, den die ersten menschlichen Besiedler vorgefunden haben. Viele Zonen sind weitgehend für die landwirtschaftliche Nutzung gerodet worden, andere dienten als Weidegebiete oder als Lieferanten für Holz und andere Utensilien. Die jetzt nicht mehr von Hirten betreuten Tiere stellen einen zusätzlichen Stress dar.
Von Böcken und Gärtnern
Auf einigen Eilanden, auf denen man Ziegen ausgebracht hat, um auf sie als Fleischlieferanten zurückgreifen zu können, ist es zur völligen Verwüstung gekommen.
Selbst was für bestimmte Landschaften gelten mag, dass Ziegen bestimmte Vegetationsformen erhalten, zumindest solange man die Populationen klein hält, gilt hier nicht. Es gibt keine traditionell an Ziegenbefrass angepasste Vegetationsform, da es nie wilde Ziegen gegeben hat. Mit den in den letzten Jahrzehnten immer stärker verwilderten Tieren würden sich eine fortschreitende Verarmung herausbilden:
– Viele unserer einzigartigen einheimischen Pflanzen würden aussterben.
– Die Böden würden verschwinden, auf denen sich nach Jahrmillionen eine ausgefeilte Pflanzenwelt entwickeln konnte und damit die Wiederbesiedelung auf lange Sicht unmöglich machen.
– Der Wasserhaushalt würde nachhaltig geschädigt werden, da nur eine hochaufwachsende Vegetation den Passatnebel filtert, und nur eine dichte Vegetation oder eine gut entwickelte Laub- und Streuschicht die Verdunstung und Erosion wirkungsvoll eindämmen.
Auf der anderen Seite könnten wir – für die Versorgung mit Fleisch, oder aus romantischen Gründen – dafür plädieren, die Tiere draussen gewähren zu lassen. Das würde aber in unserem Falle im wahrsten Sinne des Wortes bedeuten, den Bock zum Gärtner zu machen.